Forschung

Schluckstörung und Schwierigkeiten der Tabletteneinnahme bei der ALS – Ergebnisse einer Befragung von Menschen mit ALS

Die Schluckstörung ist ein häufiges und belastendes Symptom bei der ALS, das mit einer er­schwerten Flüssigkeits-, Nahrungs- und Tabletteneinnahme verbunden sein kann. Trotz der Wichtigkeit einer Schluckstörung liegen bisher nur wenige Untersuchungen zu dieser Sym­ptomatik vor. Im Ambulanzpartner Versorgungsnetzwerk wurde eine Patientenbefragung zur Schluckstörung durchgeführt, an der 203 Menschen mit ALS teilnahmen.

Bei der Patientenbefragung wurden die folgenden Themen untersucht:
  • Häufigkeit und Ausmaß einer Schluckstörung bei der ALS
  • Schwierigkeiten der Tabletteneinnahme
  • Notwendigkeit für die Umstellung von Tabletten auf flüssige Medikamente
 

Häufigkeit einer Schluckstörung

Mehr als die Hälfte der befragten ALS-Patienten (61 %; n = 123) litten an einer Schluck­stö­rung. Bei 30 % dieser Betroffenen wurde ein gelegentliches Verschlucken berichtet. Bei einer weiteren Gruppe dieser Befragten (10 %) zeigte sich eine stärkere Schluckstörung, bei der eine Anpassung der Nahrung notwendig wurde. Bei 21 % der Patienten machte die Schluck­stör­ung die Anlage einer Ernährungssonde (Perkutane endoskopische Gastrostomie, PEG) er­for­derlich.
Abb. 1: Häufigkeit der ALS-bedingten Schluckstörung. Die Schluckstörung wurde anhand eines Fragebogens ermittelt, der für die Erfassung von ALS-bedingten Symptomen international etabliert ist (ALS Functional Rating Scale, ALS-FRSr). n = Anzahl der Patienten.
   

Problematik der Tabletteneinnahme

41 % aller befragten ALS-Patienten haben Probleme bei der Tabletteneinnahme. Bei 14 % (n = 29) aller befragten Patienten zeigten sich Schwierigkeiten in Form von Kleben­bleiben der Tablette an Zunge, Gaumen oder Schlund sowie das Auslösen eines Hustenreizes oder die Angst vor dem Verschlucken. Bei weiteren 27 % aller befragten ALS-Patienten (n = 55) war die Tabletteneinnahme aufgrund einer hochgradigen Schluckstörung nicht mehr möglich.
Abb. 2: Problematik der Tabletteneinnahme. n = Anzahl der Patienten
   

Nicht-bestimmungsgemäße Medikamenteneinnahme

Die Befragung ergab, dass 27 % aller befragten ALS-Patienten ihre Tabletten nicht-bestimmungsgemäß einnehmen. 9% der Patienten (n = 19) „behelfen“ sich darin, die Tabletten zu zerklein­ern („zermörsern“) und mit der Nahrung aufzunehmen. Weitere 18 % der Befragten (n = 36) nehmen die Tabletten gemörsert über eine Ernährungssonde (PEG) ein.


Abb. 3: Häufigkeit der nicht-bestimmungsgemäßen Medikamenteneinnahme: Die Verabreichung von zerkleinerten („zermörserten“) Tabletten wird als nicht-bestimmungsgemäße Tabletteneinnahme bezeichnet. n = Anzahl der befragten Patienten.

Die Zerkleinerung von Tabletten ist problematisch und nicht „bestimmungsgemäß“, da durch die „Zerstörung“ der Tablette die Wirksamkeit des Medikamentes eingeschränkt oder ver­hin­dert werden kann. Die wiederholt zu beobachtende Praxis, dass Medikamente zusammen zerkleinert (zermörsert) und vermischt werden, ist zusätzlich kri­tisch, da durch dieses Vor­gehen eine Medikamentenkombination entsteht, deren Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil ungeprüft ist. Ein weiteres Risiko besteht in der Verstopfung der PEG-Sonde durch Bruch­stücke zerkleinerter Tabletten.

Medikamentenumstellung von Tabletten auf flüssige Medikamente

Bei 41 % der ALS-Patienten (n = 84) ist die Umstellung auf flüssige Medikamente notwendig. Bei Schwierigkeiten bzw. der Unmöglichkeit der Tabletteneinnahme ist – anstelle einer Zer­kleinerung von Tabletten – durch den Arzt zu prüfen, ob für das jeweilige Medikament eine flüssige Darreichungsform verfügbar ist. Bei 14 % (n=29) der ALS-Patienten zeigte die Be­fragung deutliche Schwierigkeiten bei der Tabletteneinnahme. In dieser Situation wird vom Arzt eine individuelle Entscheidung zur Umstellung auf flüssige Medikamente getroffen, die von der konkreten Schwierigkeit der Tabletteneinnahme abhängt („individuelle“ Notwen­dig­keit der Medikamentenumstellung). Bei 27 % der befragten Patienten, die Tabletten nur noch in „zermörserter“ Form einnehmen können, ist in jedem Fall eine Medi­kamenten­um­stellung erforderlich („absolute“ Notwendigkeit der Medikamentenum­stel­lung).
Abb. 4: Häufigkeit der notwendigen Umstellung auf flüssige Medikamente. n = Anzahl der Patienten

Seit Oktober 2016 steht für das ALS-Medikament Riluzol eine flüssige Darreichungsform zur Verfügung (Riluzol-Suspension), die über den Mund oder über eine PEG-Sonde verabreicht werden kann. Auch andere Medikamente sollten bei Schwierigkeiten der Tabletteneinnahme auf eine alternative Darreichungsform umgestellt werden (Tropfen, Medikamentenspray, Medi­kamentenpflaster). Bei fehlenden Alternativen zur Tablettenform sollte der Arzt prüfen, ob die Umstellung auf ein anderes Medikament möglich ist, das in flüssiger Form verfügbar ist und eine vergleichbare Wirkung aufweist.
   

Zusammenfassung

In einer Befragung von 203 Menschen mit ALS zeigten 61 % (n = 123) eine Schluckstörung. 14 % der Patienten (n = 29) gaben Schwierigkeiten bei der Tabletteneinnahme an (Kle­ben der Tablette an Zunge, Gaumen oder Schlund, Auslösen eines Hustenreizes oder Angst vor dem Verschlucken). In dieser Situation sollte im Arzt-Patienten-Gespräch entschieden wer­den, eine Medikamentenumstellung von Tabletten auf flüssige Medikamente vorzuneh­men. 27 % (n=55) aller befragten Patienten nahmen auf Grund einer hochgradigen Schluck­stö­rung die Tabletten zermörsert – und somit nicht-bestimmungsgemäß – ein. Die damit ver­bundenen Risiken (möglicher Wirkverlust, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Ver­stopf­ung der PEG) machen in jedem Fall eine Medikamentenumstellung erforderlich. Insge­samt ist bei über 40 % der Befragten (n = 84) die Behandlung mit flüssigen Medikamenten (anstelle von Tabletten) empfehlenswert. Seit Oktober 2016 steht auch das ALS-Medikament Riluzol in flüssiger Form (Riluzol-Suspension) zur Verfügung.

Über die Patientenbefragung: Im Zeitraum Dezember 2016 bis Februar 2017 wurden 650 Patienten mit ALS zur Teilnahme an einer Patientenbefragung per E-Mail oder telefonisch kontaktiert. Die angesprochenen Patienten waren im Ambulanzpartner Versorgungsnetzwerk registriert. 203 Patienten willigten in die Befragung ein und beantworteten einen Fragebogen mit insgesamt 10 Fragen. 106 Patienten (52 %) beantworteten die Fragen in einem Telefon­interview, während 97 Patienten (48 %) den Fragenkatalog digital absolvierten. Die Ergebnisse werden auf der Wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) im März 2018 vorgestellt.


Autoren: Prof. Dr. med. Thomas Meyer, Susanne Spittel, M.Sc.